Das Rätsel, das sind wir

Keanu Reeves, Hollywoods beliebtester Schauspieler, feiert am 2. September 2024 seinen 60. Geburtstag. Ein Versuch einer Annäherung an einen freundlich Unnahbaren.

Ich finde nichts. Ich finde einfach nichts. Meine Google-Suche „Keanu Reeves does bad things“ ist bestechend erfolglos: Es gibt keine Treffer. Stattdessen spuckt die Suchmaschine unzählige Beiträge von Menschen, die begeistert von Begegnungen mit Reeves erzählen, oder tragische Dinge, die ihm zugestoßen sind, aus. Niemand hat Schlechtes zu berichten – kaum zu glauben nach über 40 Jahren im Rampenlicht, selbst für einen bekennenden Fan wie mich.

Keanu Reeves gibt Rätsel auf. Journalisten versteigen sich gern zu der Aussage, er sei selbst eins, berühmt für seine Verschwiegenheit, sobald es um sein Privatleben geht. In einer Welt, in der Celebrities ihre Fans ständig über ihre Aktivitäten auf dem Laufenden halten, meidet Reeves die sozialen Medien. Vielleicht weil er keine Celebrity des 21. Jahrhunderts ist, sondern ein Hollywood-Star der 1990er, old school, mit einer irrlichternden Aura und einem Namen, der selbst für Hollywood fast zu schön ist, um wahr zu sein: Keanu ist Hawaiianisch und bedeutet „kühle Brise über den Bergen“.

Willkommen in der „Keanaissance“

Am 2. September 2024 begeht der alterslos wirkende Reeves seinen 60. Geburtstag, und ich rolle jedes Mal mit den Augen, wenn ihm wieder einmal von einem besonders eifrigen Kritiker unterstellt wird, er habe nur zwei Gesichtsausdrücke, sein Spiel sei hölzern. Die meisten verbinden seinen Namen mit Action-Hits wie dem Surfer-Drama Point Break, der wildesten Busfahrt der Filmgeschichte, Speed, dem ikonischen Sci-Fi-Tech-Thriller The Matrix und dem Killer-Epos John Wick, mit dem er 2014 nach einigen mageren Jahren eine weltweit als „Keanaissance“ bekannte Auferstehung feierte.
 
Ich meine: Wer nur den Actionheld kennt, sieht nicht das ganze Bild. Mit seiner Rollenauswahl spielt der in Beirut geborene Keanu Charles Reeves oft bewusst gegen sein Image als strahlender Held an: Er war Siddharta in Little Buddha, Diane Keatons junger Verehrer in Was das Herz begehrt und der gewalttätige Redneck in The Gift. Seine Gegenüber sind oft starke Frauen; selten ist Reeves der Verführer, sondern der passive Part oder der Lehrling, und nichts daran wirkt eigenartig. Einen Neo in The Matrix gäbe es nicht ohne Trinity, einen Johnny Mnemonic nicht ohne Jane.

Ein Merkmal vieler seiner Rollen ist eine auffällig fluide, nicht eindeutig lesbare Sexualität – in der Testosteron-getriebenen Blockbuster-Industrie ist er damit die absolute Ausnahme als Leading Man.

Eine kindliche Verwunderung über die Welt

Wer sich von der Präsenz, die Reeves bereits in jungen Jahren hat, überzeugen will, dem lege ich das High-School-Drama River’s Edge (Deutsch: Das Messer am Ufer) ans Herz. In dem verstörend aktuellen Drama bringt ein junger Mann seine Freundin um und präsentiert die Leiche seltsam emotionslos seinen Freunden, die verstört bis neugierig auf den Tod ihrer Klassenkameradin reagieren. Das pulsierende, unschuldige Herz des Films ist der von Keanu Reeves verkörperte Matt. Er ist der Einzige, dem es sichtlich die Luft zum Atmen nimmt; in ihm brodelt es – doch das erfährt man nur durch Kleinigkeiten wie einen zusammengepressten Kiefer hier oder ein ungläubiges Kippen des Kopfes da.
 
Charakteristischer Stoizismus und kleine Gesten, die auf emotionale Ausnahmezustände schließen lassen, sind das, wofür Keanu Reeves berühmt ist und was ihn für Rollen als Außerirdischer, Samurai oder Killer prädestiniert. Was mich dabei wie viele andere für ihn einnimmt: Ob als Junkie-Callboy, Serienmörder oder romantischer Held – Keanu Reeves ist immer vor allem eins: er selbst.

Kindliche Verwunderung über die Welt, irritierte Erkenntnis und sehr fehlbare Menschlichkeit schleichen sich selbst in die fantastischsten und potentesten seiner Charaktere. Selbst ein John Wick ist nach seinem blutigen Rachefeldzug noch tief verwurzelt in der Liebe zu seiner toten Frau.

„Er ist jemand, der wirklich zuhört“, sagt seine gute Freundin Sandra Bullock über ihn; das passt gut zu seinem berüchtigt einsilbigen Interview-Stil. Dass Keanu Reeves strikt nur über sein jeweils zu promotendes Projekt spricht – zuletzt waren das u. a. seine Auftritte in Videospielen wie Cyperpunk 2077, seine Comic-Serie BZRKR sowie der darauf basierende Roman Das Buch Anderswo –, hilft bei der Mythenbildung.

Bastel dir deinen Reeves

Hier kommt die Öffentlichkeit ins Spiel: Keanu Reeves, der Star, ist vor allem Projektionsfläche geworden, die die Welt gern als Keanu Reeves, den authentischen Menschen, verstehen will. In jungen Jahren hat Reeves einige Menschen auf tragische Weise verloren, darunter seinen besten Freund River Phoenix, über den er noch heute, 30 Jahre später, nur im Präsens und oft mit belegter Stimme spricht. Die Wärme und Trauer, die dann sichtbar werden, sind so nahbar und berührend, dass es beim Zuhören schmerzt.

In den 2000er-Jahren, in denen er meistens in finanziellen Flops spielt, existiert Reeves vor allem als „Sad Keanu“-Meme: ein Foto, auf dem er in sich versunken ein Sandwich auf einer Parkbank isst, das zum Symbol für existenzielle Weltverlorenheit und Einsamkeit wird und zigtausendfach geteilt, bearbeitet und gefeiert wird. „Mann, ich habe einfach nur ein Sandwich gegessen“, sagt Reeves darauf angesprochen einige Jahre später.

In der Post-#MeToo-Ära ist Anstand eines der größten Assets, die männliche Stars haben können. Schwer vorstellbar, dass einer wie Keanu Reeves trunken von der eigenen Bedeutung einer Kollegin zusteigt. Reeves ist die Antithese zu sexistischen Typen: Auf Fotos mit weiblichen Fans hält er stets respektvoll Abstand, seine Hand berührt niemals die andere Person. Privat ist er mit der Künstlerin Alexandra Grant liiert, die „nur“ acht Jahre jünger ist als er – ein Fakt, der gern zur feministischen Haltung stilisiert wird. Jeder bastelt sich einen eigenen Keanu Reeves.

„Beschützt Keanu, koste es, was es wolle“

Der Wahrheit am nächsten kommt wohl, dass Keanu Reeves einfach ein sehr netter, sehr höflicher Kerl ist. Der Comics, Motorräder und Hunde liebt und als Bassist in einer Band spielt. Der ganz selbstverständlich eine nicht-toxische Männlichkeit lebt, die nicht nur Frauen, sondern auch Männer anspricht. In aktuellen Interviews wirkt Keanu Reeves freier, witziger, gelöster als sonst. Wie einer, der mit sich im Reinen ist und neuerdings sogar offen über seine Wurzeln spricht – für die asiatische Community ist er seit Jahrzehnten das größte lebende Idol. Der verstanden hat, dass er nur noch Dinge tun muss, auf die er wirklich Lust hat. Und der offensichtlich glücklich ist.

Ein unlösbares Rätsel sieht anders aus – das wirkliche Rätsel sind am Ende wir, unsere Sehnsucht nach einem Menschen, der das Reine und Gute verkörpert. Nach einem tragischen Helden, dessen Existenz uns wärmt wie eine kuschlige Decke. Der uns Geschichten erzählt, die gut enden. „Beschützt Keanu, koste es, was es wolle!“, heißt es in Kommentaren auf sozialen Medien oft. Wahrscheinlich müsste es heißen: „Beschützt unseren Glauben an Keanu, koste es, was es wolle!“

Oder, kürzer: Happy Birthday, Mr Reeves.