„Ich kann eure Ohren hören“

Laudatio für Yvonne Widler bei der Verleihung des Journalistinnenpreis 2023 im Wiener Rathaus

„Ich kann eure Ohren hören“, sagte Stian Westerhus, ein norwegischer Gitarrist, nach einem Konzert, das ich besuchte. Das Publikum hatte mit gespannter Stille und gespitzten Ohren zugehört. Ein bisschen so ist es, wenn man mit Yvonne Widler zusammensitzt – man kann ihre Ohren hören, kann förmlich spüren, wie sie sich ganz auf ihr Gegenüber einlässt, Nuancen wahrnimmt, ihre Interviewpartner:innen ernst nimmt und damit einen Raum aufspannt, in dem Vertrauen möglich ist. Darauf, dass persönliche Geschichten und Erfahrungen gehört werden, dass die eigenen Gedanken in guten Händen sind – und vor allem auch verantwortungsvoll behandelt werden.

Ich bin überzeugt, nein, ich weiß, dass das der Kern von Yvonne Widlers journalistischer Arbeit ist: ein ganzheitliches, empathisches, geschultes und immer zugewandtes Zuhören. Anders wäre es ihr wohl nicht möglich, sich der Themen anzunehmen, auf die sie sich für ihre berührenden, manchmal erschreckenden Reportagen und Projekte einlässt.

Welch großer eigenen emotionalen Gefestigtheit die berufliche Auseinandersetzung mit todkranken Menschen, mit Menschen, die in ihrer Kindheit misshandelt wurden, oder straffällig gewordenen Frauen bedarf, kann ich nur ahnen und vor allem: bewundern.
Sollbruchstellen der Gesellschaft

Ein Blick in Yvonne Widlers Werdegang und Schaffen: Nach ihrem Wirtschafts- und Journalismus-Studium gründete sie mit Weggefährt:innen das preisgekrönte Online-Magazin paroli, die Mutter aller Onlinemagazine. Ab 2014 war Yvonne Widler Teil von NZZ.at, für das u.a. die mit dem Prälat-Leopold-Unger-Preis ausgezeichnete Reportage „Ihr müsst euch jetzt verabschieden“ entstand. In nüchterner, klarer und doch bewegender Sprache folgt sie der Biografie einer jungen Frau, deren Stiefmutter sie einst im Heim Hohe Warte in Wien abgab – ein Moment, dem ein jahrelanges Martyrium folgte.

Ihr Gespür für gesellschaftskritische Geschichten mit Fokus auf persönliche Schicksale, die exemplarisch für Sollbruchstellen unserer Gesellschaft stehen, nahm Yvonne Widler zum KURIER mit, dem sie seit 2016 mehrfach ausgezeichnete Reportagen schenkt. So erzählt sie in „Das Jugendamt und seine Kinder“ (2018) mit großer Klarheit und vollkommen wertfrei von der für alle Beteiligten furchtbaren Situation, die als „Kindesabnahme“ bekannt ist – das Jugendamt also einschreiten muss, weil Kinder bei ihren Eltern so gefährdet sind, dass ihr Verbleib im Familienverbund nicht möglich ist.

In „Misshandelt – Vom Jugendamt zu einer Mörderin gesteckt“ spricht sie mit Walfried Janka, der als Kind eine unfassbare 16-jährige Leidensgeschichte bei einer gewalttätigen Pflegemutter erdulden musste – und der das Land Steiermark auf hohes Schmerzensgeld verklagt hat. Die einfühlsame Chronik wird mit dem Karl Renner Publizistik Preis geehrt.
2019 folgt die aufrüttelnde Reportage „Mein Kind ist psychisch krank, niemand kann helfen“. Elf Jahre ist der aus Äthiopien stammende Junge alt, dessen Familie, Ärzt:innen und Psycholog:innen Yvonne begleitet, als er sagt, er wolle sterben.

Es ist die Geschichte einer Adoption, die Geschichte einer hilflosen, verzweifelten Familie – und die Geschichte eines staatlichen und gesundheitlichen Versorgungssystems, das an Grenzen stößt.

Welches Thema Yvonne Widler auch anpackt – Arbeitslosigkeit bei Männern im Alter, Gedanken von todkranken Menschen, True Crime Fälle in Österreich –, sie tut es mit Herz, Verstand und Präzision. Beobachtet hatte ich ihre unbestechliche, unkorrumpierbare Arbeit schon lange, zueinander gefunden haben wir allerdings erst bei der Arbeit an ihrem ersten Buch „Sie sagt, er sagt“, einer vielschichtigen Sammlung über die bleibende Liebe in Zeiten von flüchtigen Dating-Apps, das 2019 im Verlag Kremayr & Scheriau erschien.

Der Mut, nicht wegzusehen

Ein paar Worte noch zum Herzstück von Yvonne Widlers Arbeit: Es gibt kaum eine Person, die sich in den vergangenen Jahren so intensiv, so fachkundig und ausdauernd mit dem Thema Femizide in Österreich auseinandergesetzt hat. Kein Fall, den sie nicht dokumentiert hätte, keine Verhandlung, in der sie nicht anwesend gewesen, kein Leid, das ihr entgangen wäre. Als wir bei einem Kaffee im Jahr 2020 erstmals darüber sprachen, uns diesem hoch emotional besetzten Thema in Buchform zu nähern, sagte ich sofort Ja. Entstanden ist mit „Heimat bist du toter Töchter“ ein Standardwerk zum Thema Mord an Frauen in Österreich.

Was Yvonne mit dem Buch seit seinem Erscheinen vor einem Jahr geleistet hat – an Recherche, an Gesprächen, an Vermittlungsarbeit bei Präsentationen, auf Panels, bei Diskussionen über Präventionsarbeit –, ist von unschätzbarem Wert und beweist einmal mehr, wie grundlegend und demokratiestärkend engagierte, kompromisslose, integere und ja, feministische journalistische Arbeit ist. Denn „Heimat“ ist weit mehr als eine Aufzählung der erschreckend hohen Mordrate an Frauen, der Morde, die meist im engsten Familienkreis geschehen, sondern eine bedachte Auseinandersetzung mit Ursachen, dem Umgang, den die Politik nicht findet mit diesem Thema, eine Bestandsaufnahme der sehr unterschiedlich ausgeprägten Polizeiarbeit und vielem mehr. Dass sich Angehörige von ermordeten Frauen sowie Frauen, die einen Anschlag auf ihr Leben überlebt haben, ihr anvertrauten, legt Zeugnis ab von der großen Empathie und Sorgfalt, die Yvonne Widler ihrer Arbeit angedeihen lässt.

Ich freue mich über alle Maßen, dass Yvonne Widler heute Abend den Hauptpreis des Wiener Journalistinnenpreises für ihre herausragende Arbeit, für ihre unverbrüchliche Haltung und ihren Mut, nicht wegzusehen verliehen wird. Wenn Sie jetzt noch einen Moment in Ruhe sitzen bleiben, hören Sie wahrscheinlich sogar ihre Ohren. Danke.